Masernpartys sind „wie russisches Roulette mit Kindern“

Im Bild: Primar Dr. Ernst Prethaler ist der Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde in der Klinik Oberwart

Primar Dr. Ernst Prethaler von der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde in der Klinik Oberwart sprach in der "Radio Burgenland Sprechstunde" am 18. April 2024 mit ORF-Moderatorin Nicole Aigner über die Impfmüdigkeit in der Bevölkerung und ihre Folgen.

Masern, Keuchhusten, Windpocken –  seit einigen Jahren ist von einer Rückkehr dieser fast schon vergessenen Krankheiten die Rede, nicht nur bei uns in Österreich, auch in Deutschland und in ganz Europa. Die gesunkene Impfbereitschaft macht auch dem Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde an der Klinik Oberwart Primarius Dr. Ernst Prethaler Sorgen. Erst kürzlich ist ein wenige Wochen altes Baby in einem Spital in Graz an Keuchhusten gestorben. Auch die Zahl der Masernfälle ist gestiegen – geradezu explodiert. „Es macht mich sehr betroffen. Jeder Fall ist einer zu viel. Diese Geschichten sind ganz schrecklich. Wenn wir eines daraus mitnehmen sollten, dann, dass jedes einzelne Kind, das zu Schaden kommt oder sogar den Tod findet, uns ein Anlass sein sollte, in der Aufklärungsarbeit nicht müde zu werden, weil wir dadurch vielleicht den nächsten Fall verhindern können“, so die Reaktion des Primars auf den konkreten Fall. 

Für eine Impfpflicht spricht sich Prethaler dennoch nicht aus: „Es ist ein vieldiskutiertes Thema. Wahrscheinlich gibt es dafür keine einfache Lösung.“ Wichtiger als eine vorgeschriebene Impfpflicht sei, die Botschaft über die Vorteile des Impfens aus medizinischer Sicht klarer zu verbreiten. „Wir müssen auch daran arbeiten, es verständlicher und nachvollziehbarer zu machen, wie wichtig es ist und was dahintersteckt“, erklärt der Kinderfacharzt. Die Aufklärung von Seiten der Ärztinnen und Ärzte sei enorm wichtig, vor allem, weil infolge der Coronapandemie die Impfskepsis gewachsen ist. „Im Rahmen der Coronapandemie ist wahrscheinlich erstmals für die breite Bevölkerung spürbar geworden, wie medizinische Entscheidungsprozesse ablaufen. Das hat Vor- und Nachteile. Wir sind in einem ständigen Diskurs. Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Es geht immer darum, Risiko und Nutzen gegeneinander abzuwägen“, so Prethaler. In der Coronasituation habe man sozialpolitische Entscheidungen getroffen, die manchmal die Medizin hinterhergezogen hätten. Das habe vielleicht dazu geführt, dass viele Menschen, das Vertrauen in die medizinischen Empfehlungen verloren haben. Daran müsse man jetzt arbeiten.

Gefährliche Masernpartys

Masernpartys, also Zusammentreffen von Eltern, die ihre Kinder bewusst mit der Krankheit anstecken lassen wollen, boomen. Der Primar an der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde rät strikt davon ab: „Das ist aus ärztlicher Sicht ganz schwer nachvollziehbar, weil wir sehen, was das für Folgen haben kann. Wenn ich ganz ehrlich sein darf: das ist so etwas wie russisches Roulette mit Kindern. Wir wissen einfach nicht, welches dieser Kinder, schwere Komplikationen – sogar mit Todesfolge – nach sich trägt. Die Idee diesen Reiz zu nützen, um immunologisch eine Abwehr aufzubauen, ist wissenschaftlich vollkommen nachvollziehbar. Was dem aber innewohnt ist, dass in dem Wildvirus auch die Komplikation drinnen steckt. Bei der Impfung fehlt diese.“

Welche Krankheiten bereits ausgerottet sind und welche nun wieder zunehmen? „Was definitiv ausgerottet ist und bleibt, sind die Pocken. Von der Impfung trage ich in meiner Generation noch eine Narbe davon“, schildert Dr. Prethaler. Auch Polio sei ausgerottet. Krankheiten wie Masern oder Keuchhusten seien vor allem für Kleinkinder, Säuglinge und Neugeborene höchstgefährlich, jedoch aufgrund der nicht mehr sehr spürbaren Komplikationen und schwerwiegenden Folgen – was den Impfwunsch betrifft – wieder zunehmend. „Die Leute haben das Bewusstsein verloren, dass diese Impfung eigentlich ein Segen ist.“

Zahlreiche Komplikationen möglich

Bei den Masern komme es bei „vier bis elf von 100.000 Angesteckten zu einer schwerwiegenden Komplikation, die sogenannte Subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE)“, verdeutlicht der Experte. Bei der SSPE handelt es sich um eine Gehirnentzündung, die mit einer Latenzzeit von bis zu acht Jahren auftritt. Fast immer ende sie tödlich. 

Ob es heutzutage auch Impfungen gäbe, die entbehrlich seien? „Auch eine Frage, die man natürlich ernsthaft beantworten möchte oder muss, weil sie vielfach gestellt wird. Allerdings möchte ich sie trotzdem pointiert mit einer Gegenfrage beantworten: Welche Krankheiten und Risiken möchten wir unseren Kindern zumuten?“, so die Antwort Prethalers. Bei 4 bis elf von 100.000 mit Masern angesteckten Kindern gäbe es eben diese seltene Komplikation. „Da kann man den Kindern wirklich nur beim Sterben zuschauen, das dauert Monate“, verdeutlicht der Arzt. Wenn man auf der anderen Seite die möglichen Impfschäden betrachte, die nicht immer einfach auf den Punkt zu bringen seien, etwa bei Masern, dann sei die Rede von eins zu einer Million, eine ganz andere Risiko-Nutzen-Konstellation. Das Fazit Prethalers: „Wir können heutzutage eigentlich auf keine Impfung verzichten, weil alle impfbaren Krankheiten Komplikationen mit sich führen, die in jedem Fall häufiger auftreten als die möglichen Impfschäden. Das ist die ehrlichste Antwort, die ich geben kann.“

Große Fortschritte bei Sechsfachimpfung

Viele Eltern haben Angst, ihren Kindern Kombiimpfungen verabreichen zu lassen, da sie befürchten, die Impfungen würden die kleinen Körper zu stark belasten. „Ich möchte das wirklich relativieren, oder sogar mit einem Irrtum aufräumen“, betont Prethaler. Bei den heutigen Sechsfachimpfungen habe man es geschafft die Antigenlast deutlich zu reduzieren. „In der Vierfachimpfung waren vier-, fünf- oder sechstausend Antigene, also immunologische Reizstoffe, drinnen. Bei der modernen Sechsfachimpfung sind 22 bis 262“, verdeutlicht es der Primar aus der Klinik Oberwart mithilfe von Zahlen. Und weiter: „Das heißt, die moderne Sechsfachimpfung ist in Wahrheit wesentlich schlauer und weniger belastend als es die früheren Impfungen waren. Für das Immunsystem des Kindes ist es vergleichbar mit einem Löffel Erde, den es zu sich nimmt.“

Welche Folgen es hat, wenn Erwachsene an Kinderkrankheiten erkranken und welche Auswirkungen entstandene Impflücken auf die nachfolgenden Generationen haben? Problematisch sei dies nicht nur für die erkrankten Erwachsenen selber, da die Kinderkrankheiten im Erwachsenenalter immunologisch meist weitaus heftigere Folgen hätten. Krankheiten würden also meist deutlich stärker verlaufen und den Körper stärker belasten, als dies bei Kindern der Fall ist. Besonders gefährlich sei es aber, wenn Schwangere sich mit Kinderkrankheiten anstecken, weil sie nicht geimpft sind. „Das ist ein Riesenproblem“, betont der Kinderfacharzt. In den ersten sechs bis acht Wochen seien Babys komplett ungeschützt. Keuchhusten oder Varicellen seien in dieser Phase lebensbedrohend. Auch bei dem Baby, das in Graz gestorben ist, sei das der Fall gewesen. Nachsatz: „Wenn die Mütter geschützt sind, dann können sie ihren Kindern damit möglicherweise eine lebensbedrohliche Situation ersparen.“

Wie erreicht man Herdenimmunität?

Die Herdenimmunität sei bei jeder Krankheit anders. Das habe mit der Virulenz, also mit ihrer Übertragbarkeit, zu tun. „Bei Masern braucht es zum Beispiel 95 Prozent Durchimpfung. Das ist relativ hoch. Bei anderen Krankheiten reicht weniger aus.“ Wie sich die Impfbereitschaft steigern lasse? Diese Impfpflicht sei nicht die schlauste Antwort. „Es geht darum, mit den heutigen Mitteln der Kommunikationstechnik und der Vermarktung, das Thema Impfen spürbarer und greifbarer und im Alltag besser erlebbar zu machen“, ist sich Prethaler sicher und bringt das Beispiel des „Nudgings“. Damit bewegt man jemanden auf mehr oder weniger subtile Weise dazu, etwas Bestimmtes einmalig oder dauerhaft zu tun oder zu lassen. Im Bezug auf das Impfen könnte man etwa Impftermine ausschicken. Das sei für viele einfacher, als extra einen Termin ausmachen zu müssen. „Also Opt-out und nicht Opt-in. Das sind Kleinigkeiten, aber, wenn man damit wieder ein paar Menschen erreicht, für die das dann greifbarer wird, hat man schon wieder ein paar gewonnen“, gibt sich der Primar hoffnungsvoll. Es seien kleine Schritte, die zu tun sind, um ein großes Ziel zu erreichen. „Wir dürfen einfach nicht müde werden, denn es geht um die Kinder. Dieses eine Kind, das jetzt gestorben ist, soll uns aufrütteln.“

Vertrauen herstellen

Impfungen gehören für viele zu den größten Errungenschaften der Medizin. Bei vielen ist die Verunsicherung seit der Coronapandemie jedoch größer geworden. Für Prethaler spielen Zeit und qualifizierte medizinische Expertinnen und Experten beim Umgang mit dieser Thematik eine wichtige Rolle. Zeit sei in der Medizin teuer und schwer verfügbar geworden, weil es viel zu wenige Ärzte und Ärztinnen und Personen gäbe, die sich qualifiziert damit beschäftigen könnten. Das aber sei der Schlüssel. „Das Vertrauen muss hergestellt werden. Die Aufklärung eines Patienten in meiner Welt ist in erster Linie Aufbau von Vertrauen und weniger das Verständnis an sich“, erklärt Prethaler. Außerdem sei es wesentlich, zuzuhören und auch absurde Ideen aufzunehmen und zu hinterfragen, was dahintersteckt und alle Leute ernstzunehmen. „Das ist entscheidend. Sorgen sind berechtigt und es gilt, diese Sorgen auszuräumen“, so Prethaler zum Abschluss des Gesprächs.
 

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